MATZLEINSDORFERPLATZ

Der Matzleinsdorferplatz beschäftigt mich länger, als ich ursprünglich für möglich gehalten habe. Dem bekannten und stark frequentierten Platz im Süden von Wien, zwischen dem 5. und 10. Gemeindebezirk, wird wenig Beachtung geschenkt, kaum Liebe entgegen gebracht oder Sinn beigemessen. Er wird aufgesucht, gebraucht, verwendet und verlassen. Ein Platz mitten im Verkehr, ein mehrschichtiges Verkehrsbauwerk und ein Verkehrsknotenpunkt - das ist der Matzleinsdorferplatz. An Ereignissen arm und ohne Geschichte sei der Platz, so die gängige Meinung. Ein Nicht-Ort oder Unort. Schmutzig und häßlich sei der Platz. Es herrsche ein heilloses Wirrwarr, ein ästhetischer Supergau sei der Platz, eine Verkehrshölle. Überhaupt und eigentlich, ist das vielleicht am Ende gar kein Platz?

[kleinbilddia-scan-ultraschallbild "verkehrsbauwerk mit goldhaube"; 14cm x 10,5cm]

Eine Schnellbahn fährt oben in der Station ein. Eine Überwerfung: Auch über die neue Gleisrampe gleiten jetzt Züge über den Matzleinsdorferplatz. Unter dem Viadukt rollen Autos, LKWs, Busse, einzelne Fahrräder, Einsatzfahrzeuge oder Motorräder. Stiegen, Rolltreppen, neuerdings Lifte führen in Unterführungen, durch Passagen in den Untergrund, zur Unterpflasterstraßenbahn. Schon lange sitzt dort eine Stationsaufsicht. Ein neues Leitsystem, neue Fliesen und ein neues Lichtkonzept - das Personenfließband ist schon länger außer Betrieb. Die Metallbuchstaben "MATZLEINSDORFERPLATZ" sind demontiert. Am Gürtel senkt sich die Straße. Als mehrspurige Unterfahrung geht sie unter dem Platz durch. Irgendwo da unten sind noch Kabelschächte, Rohrleitungen und die Wasserleitung. Am Platz sind Ampeln, Verkehrszeichen, Zebrastreifen und Markierungen. Bald kommt die U-Bahn.

Der Matzleinsdorferplatz ist für mich ein Vehikel, mit dem ich eine kritische Praxis probiere. Ein Ort - mit Geschichte, an dem Menschen leben und gelebt haben. Ist der Platz im besten Sinne eine Witzfigur? Ich spreche über Stadtgeschichte, über Ordnungspolitik, Stadtentwicklung und Kunst. Drei Figuren lassen mich dabei nicht los: die Baustelle, der Verkehr und das Verhältnis von Schmutz&Sauberkeit. Und so verknüpfe ich die Bauteile mehr und mehr zu einer verschränkten Arbeit. Immer wieder kehre ich zum Matzleinsdorferplatz zurück.

Ich machte Ausstellungen, Diskussionen, Referate, Spaziergänge, Workshops, Filme und Feuerwerke am und über den Matzleinsdorferplatz. Ich recherchierte in Archiven und Bibliotheken, im Netz und sammelte Zeitungsartikel, Pläne, Lieder, Karten, Fotos, Filmmaterial, Postkarten, Zeichnungen, etc.

Was steht hinter der schnellen Rede vom Nicht-Ort oder Unort, oder der Erzeugung häßlicher Orte? Welche Gründe und Interessen stehen hinter der perfiden Auslöschung von Geschichte? Eine Auslöschung in doppelter Hinsicht: zugleich geht es der vergangenen Geschichte, sowie einer möglichen Geschichte an den Kragen - Veränderung bzw. die Möglichkeit anderes oder verkehrtes zu denken wird so erschwert oder sogar verunmöglicht - man mag meinen, im unwirtlichen Verkehrsbauwerk müsse ein solcher politischer oder ästhetischer Raum nicht unbedingt oder ganz zuletzt aufgehoben, erstritten oder diskutiert werden. Das ist ein Irrtum.

Gerade in den vermeintlich bedeutungslosen Verkehrsbauwerken schlummert eine Geschichte, die es zu entdecken, nicht zuzudecken, gilt. Verkehr ist mehr als die Verfrachtung von Personen, Waren oder Informationen von A nach B. Verkehrsinfrastrukturen sind keine technischen Zufallsprodukte, keine Unfälle der Geschichte, sondern verdichteter Ausdruck von gesellschaftspolitischen Entwicklungen und Konflikten. Verkehrsbauwerke sind nicht einfache Ungetüme, die nach mehr oder weniger willkürlichen Gesichtspunkten topographisch angeordnet werden. Sie sind Orte des Austausches und des Übergangs und Produkt einer gewachsenen Geschichte. So befindet sich der Matzleinsdorferplatz an einer bedeutsamen historischen Einfahrtsstraße aus dem Süden und 200 Jahre lang fungierte der Ort als Grenzort, als Linienplatz, als Tor zur Stadt, als Mautstation und Steuergrenze mit all den säkularen wie sakralen baulichen Maßnahmen, den dazu gehörigen gesellschaftlichen Organisationsformen, den technischen Einrichtungen, die entlang der Wiener Linien notwendig waren und ausgebildet wurden. Im Verkehrsbauwerk ist diese Geschichte festgeschrieben, durch den Verkehr wird sie fortgeschrieben. Nichts ist hier nur Technik. Die Eisenbahntrasse ermöglicht eine Reise oder den Antransport der Baumaterialien für die Prunkbauten am Ring. Im "autogerechten" Verkehrsbauwerk der 1950er und 1960er Jahre steckt eine gehörige Portion Verdrängungsarbeit und das Versprechen einer konfliktfreien, sorgenfreien Zukunft zwischen Arbeit (geregelter Lohnarbeit) und Freizeit (Konsum). Straßenschilder sind Produkte einer visuellen Kultur des frühen 20. Jahrhunderts und stehen wiederum im Kontext von straßenseitiger Kleinstbauwerken oder von Reklame etc. Die Wasserleitung, die unter dem Platz in die Stadt läuft, verheißt einen Wandel im Umgang mit Sauberkeit, Hygiene oder privater Gestaltung der Naßbereiche im Wohnbereich, etc. Und der Verkehrsfilm erzählt unter anderen die Geschichte vom konformen Verhalten im öffentlichen Raum. Das alles sind komplexe Regelwerke, scheinbar ephemere Vorgänge, schwer zu faßen, doch vollgesogen mit Geschichte und Bedeutung. Nimmt man die Konnotation des Verkehrens, der Umkehrung, noch mit in die Betrachtung gerät der Gegenstand vollends aus dem Gleichgewicht Vielleicht entsteht dann ein neuer Verkehrsfilm!


[verkehrspostkarte; zitat aus dem verkehrserziehungsfilm "achtung! stadtverkehr"]

Es wird leicht verständlich sein, dass meine Beschäftigung mit dem Matzleinsdorferplatz keineswegs getragen wird von einem kosmetischen Kritik-Verständnis, in welchem einfach die vorherrschende Sicht auf den Platz (als geschichtslos, gesichtlos und gehaltlos) vorwurfsvoll "der Politik" zurück gespiegelt wird - genausowenig zielt meine Auseinandersetzung darauf ab, eine einfache technische bauliche Lösung "des Problems" auf den Tisch zu legen. Vielmehr will ich eine Ordnung in Frage stellen, ich will diskutieren, welche Projekte und Konzepte unter den Schlagworten von Sauberkeit und Ordnung in die Welt gesetzt werden, ich will nachdenken über Möglichkeiten und Unmöglichkeiten einer konfrontativen Geschichtsarbeit, fantastischer Bauten, einer Ästhetik des Widerstands.

Was wäre ein Matzleinsdorferplatz an dem Autos in Spiegeln verschwinden, wo wie wild Kinder spielen und wo eine infrastrukturelle Erneuerung von einem Team von Feministinnen erdacht und baulich umgesetzt wird? Andere Signale. Keine kulturelle Zwischennutzung, sondern eine widerständige kulturelle Nutzung. Viele bunte Wollfäden und wogende Disteln im Verkehr. Ein Kunstfeuerwerk. Was wäre ein Nachdenken am ehemaligen Grenzort, darüber wie heute Grenzen aussehen, wie diese ausverhandelt und reproduziert werden, wem sie dienen? Ein Nachdenken, wie Grenzen und mit ihnen verknüpfte Privilegien bzw. eine ungerechte Verteilung von Aufenthaltsstatus, etc. im Sinne eines guten Lebens für alle, beseitigt werden können?! Was wäre das für ein Platz? Was wäre dort ein Unfall? Wie würden sich die Leute dort wundern?

Der Matzleinsdorferplatz ist für mich ein Ort, den ich mir erarbeitet habe, ein Platz, der mich beschäftigt, an dem ich Geschichtsarbeit mache, ein Platz als Vehikel für umfangreiche Kritik, ein Platz, den ich schätze und an dem ich schon viel Zeit verbracht habe, über den ich Texte geschrieben und über den ich bis zur Erschöpfung gesprochen habe.

Unzählige Fragen hängen am Platz: Wie werden (öffentliche) Räume gesäubert und in welchem Verhältnis stehen sie zum vermeintlichen Schmutz? Wo kippen diese Bilder einer imaginierten Sauberkeit oder Sicherheit? Wo verlaufen die heutigen Wiener Linien? Wer organisiert die Ordnungspolitik, wer macht Sauberkeitskampagnen oder wer initiiert die Vertreibungspolitik? Was macht die Stadtplanung? Welche Rolle spielt Kunst in Prozessen der Gentrifizierung und der kapitalistischen Vergesellschaftung von Raum und Zeit? Wie bekommen wir einen kritischen Blick auf Verkehr? Was wäre eine antikapitalistische Konfiguration von Landschaft? Und was ist eine kritische Geschichte?

Der Platz ist eine Geschichtsbaustelle: Im weitesten Sinne. Mit der Geschichtsbaustelle referiere ich auf die Geschichte der Geschichtswerkstätten und diskutiere "Geschichte von unten". Der Slogan "baue wo du stehst!" ist wörtlich zu nehmen. Zwischen graben und bauen bewegt sich das Konzept der Geschichtsbaustelle.

Ereignis. Technik. Film. Sozialgeschichte. Verkehr. Struktur und Alltag und selbst Kindergeschichte:

matz ab!