GESCHICHTSBAUSTELLE

Die Auseinandersetzung mit dem Matzleinsdorferplatz ist ein Nachdenken über Geschichte und ihre theoretischen wie praktischen Möglichkeiten - insbesondere habe ich zur Geschichte der Geschichtswerkstätten geforscht und probiert in kritischer Anlehnung an die Geschichtwerkstätten (Stichwort: Grabe wo du stehst.) das Konzept der Geschichtsbaustelle (Stichwort: Baue wo du stehst!) zu entwickeln.

Geschichtswerkstätten entstanden im deutschsprachigen Raum ab den späten 1970er Jahren. Ähnliche Bewegungen gab es zuvor in England (History Workshop) oder in Schweden (Gräv där du står).

Die heterogenen Gruppen teilten ein Interesse an einer "Geschichte von unten", an einer "anderen Geschichte" - oft bestand ein Interesse an lokaler Geschichte, Geschichte von Stadtteilen oder von speziellen Orten der Arbeit. Ebenso passierte in den Geschichtswerkstätten eine Abwendung von so genannter Ereignisgeschichte oder einer Geschichte "großer Männer" und ihrer Staatsaktionen; große Erzählungen gerieten in den Geschichtswerkstätten in die Kritik. Dafür passierte eine Hinwendung zu Alltagsgeschichte, zur Geschichte der "einfachen Leute" oder ganz allgemein zur "eigenen Geschichte". Ausdruck dieser Verschiebung war ein innovativ-kritischer und experimenteller Umgang mit Quellen. Das betrifft auch die Arbeit mit Oral History.


[verkehrsbaustelle matzleinsdorferplatz, 2. hälfte 1960er jahre; © bildarchiv austria ]


Zudem waren Geschichtswerkstätten mehr oder weniger anti-akademisch bzw. in kritischer Distanz zur etablierten Wissenschaft ausgerichtet. Die Arbeit geschah häufig in Kollektiven, relativ selbstbestimmt (auch selbstausbeuterisch) und demokratisch. Die Aktivisten und Aktivistinnen legten Archive an, publizierten Bücher und Kalender, organisierten Geschichtsfeste, Stadtrundfahrten, Straßenfeste oder intervenierten beim Abriss historischer (Industrie-)Gebäude. Geschichtswerkstätten bauten Ausstellungen, konzipierten die Vermittlungsarbeit und machten auch noch die Öffentlichkeitsarbeit. Erfahrungen und Modelle aus den Geschichtswerkstätten wurden zur Untersuchung von Arbeitsverhältnissen oder von ganzen (postindustriellen) Landstrichen verwendet und in Altenarbeit, Theaterpädagogik, Museologie oder Stadtteilarbeit weiter gedacht und eingesetzt.

Stießen die sog. Barfußhistoriker_innen, die Laien und Laieinnen anfänglich häufig auf Skepsis oder offene Ablehnung in den etablierten Geschichtswissenschaften oder in den Archiven und Museen, so veränderte sich im Laufe der 80er Jahre der Umgang und die Sicht auf die Geschichtswerkstätten drastisch - sie wurden von einer Elite nicht mehr als Bedrohung wahrgenommen, manche Protagonisten und Protagonistinnen machten selbst Karriere, manche Geschichtswerkstätten verschrieben sich einer eher unkritischen Heimatgeschichtsforschung und andere entfernten sich mit ihrer Geschichtsarbeit zunehmend von einer kritischen Gesellschaftstheorie. Aktivmachung, die Arbeit mit "eigener Geschichte" oder auch so profane Methoden, wie ein Stadtspaziergang bedeuten im Lichte eines kognitiven Kapitalismus, im Lichte von Gentrifizierung, im Lichte einer dystopischen Arbeitsmarktverwaltung (Stichwort: Zwangsaktivierung) und im Lichte einer globalen Krise des Kapitalismus, in dessen Kontext Ensicherung, Austeriätspolitik, Rassismus realisiert aber auch neue Kämpfe um demokratische Teilhabe und für Gerechtigkeit statt finden, drastisch anderes, als in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts.


[verkehrsbaustelle matzleinsdorferplatz, 2. hälfte 1960er jahre, © bildarchiv austria]

Geschichtswerkstätten werden auch immer wieder einmal initiiert, häufig dann wenn sog. "braune Flecken" in speziellen Communities für Gesprächsstoff sorgen - sie funktionieren dann eher im Sinne einer Harmonisierung oder im Sinne eines (symbolischen) Ausgleichs, als im Sinne einer Methode zur Konfrontation sozialer und gesellschafticher Missverhältnisse in Arbeit, in Freizeit oder in Erinnerung.

Was heißt konfrontative Geschichsarbeit? Zuerst einmal heißt das für mich ein Nachdenken darüber, wie eine kritische Historisierung von Geschichte aussehen kann. Dann geht es darum Zugriff auf alle leidvollen, lustigen, absurden oder auch tragischen Ereignisse des Lebens zu erlangen; Eine intensive materielle und poetische Tätigkeit. Eine Arbeit, mit der wir die Ambivalenzen und globalen wie lokalen Ungerechtigkeiten des ärmlichen Kapitalismus bereichern, aufsprengen und in die Lüfte jagen. Den Abfall besorgen, der eh schon in der Luft liegt.


[verkehrsbaustelle matzleinsdorferplatz, 2. Hälfte 1960er Jahre, filmstill baustellenfilm der mediawien.at]

Hier kommt auch wieder die variable Figur der Geschichtsbaustelle (Baue wo du stehst!) ins Spiel. Wenn Geschichtswerkstätten in aufwendigen Untersuchungen den Wandel einer industriellen hin zu einer postindustriellen Arbeitswelt untersucht und begleitet haben, und wenn man diesen Vorsprung hat, dann wäre es ja denkbar, dass man mit ähnlichen Methoden und kritischer Sicht, mit Arbeiter_innen-Selbstuntersuchungen, mit Arbeitslosen-Selbstuntersuchungen, mit neuen Archiven, mit Bauten und Aktionen im öffentlichen Raum, mit Pflanzungen und mit Kompott einen gesellschaftlichen Wandel hin zu einer postkapitalistischen, einer besseren, Welt angeht.

Eine Welt in der keine Regierung, kein Staat, kein Unternehmen und keine Sendung uns mit ihren brüchigen Schlagworten von Sicherheit, Sauberkeit und Ordnung davon zwingt auf Demokratie, Arbeitsrechte, neue Gangarten, schöne Disteln, gute Architektur oder ein gutes Leben zu verzichten - weil das alles, das Elend der Welt, alternativlos sei. Es ist nur alternativlos, weil wir (mit unserem eurozentristischen Männlichkeitsbild) und vor allem eine herrschende Klasse von dieser Konstellation (immer noch) profitieren/profitiert.

Sauberkeit, Sicherheit oder Ordnung sind politische Konzepte, mit denen Immobilienentwickler, Supermärkte, Esoteriker_innen, Autobauer_innen, Museumsmanager_innen, Regierungsräte, Sicherheitsvertreter_innen, Marketingleute oder Neofaschisten ihre brüchigen Produkte vertreiben. Dahinter steht nicht die Sorge um ein gutes Leben für alle, sondern die Sorge um Kleingeld und Macht. Diese Kategorien stehen im Zentrum politischer Konflikte und sozialer Kämpfe.

Mehr Sauberkeit führt demnach keineswegs zu mehr Sauberkeit, mehr Sicherheit nicht zu mehr Sicherheit und mehr Ordnung zu keiner guten Ordnung, sondern zu mehr (auto)aggressiver Verengung, zu mehr korrupter Supersauberkeit, zu mehr Entsicherung, zu mehr Monokultur, mehr Entfremdung, zu mehr dysfunktionaler Ordnung, zu mehr xenophob-rassistischer Projektion, zu mehr Ausgrenzung und zu immer mehr autoritärer Politik. Das ist die große Entsorgung. Und sie läuft vor aller Augen ab.

Was das im einzelnen heißt? Für mich heißt das, daß ich künstlerisch und politisch weiter am Konzept der Geschichtsbaustelle basteln werde - womöglich, weil ich mir schlicht auch ein Auskommen davon verspreche.


• TEXTE •

// katalog 70er ausstellung: eine zeit zum zerreissen.
// buch: lernen im urbanen raum von der geschichtswerkstatt zur geschichtsbaustelle
// klassenbuch von der geschichtswerkstatt zur geschichtsbaustelle
// diplomarbeit zur geschichte der geschichtswerkstätten in österreich


[karrieremonster IV, Holz, Kreide, Leim, Pigment; 2013]